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Hoheitsgewässer


Galerie am Klostersee, Kloster Lehnin
2023


Dr. Ursula Krohn



Turn Over XII – 2023, Pigmente und Acryl auf Leinwand, 140 x 90 cm





Liebe Catharina, liebe Gäste,

Catharina de Rijke habe ich vor 9 Jahren bei ihrer Ausstellung in Leverkusen anlässlich der Leverkusener Kunstnacht in der Herz-Jesu-Kirche kennengelernt. Sie präsentierte dort großformatige, eindringliche Bilder, in denen sie auf den Reaktorunfall in Fukushima reagiert hat. Ohne den konkreten Ort abzubilden, wurde und wird die Trauer der Künstlerin über die katastrophale Verwüstung nachvollziehbar. Die Farben und die Komposition strahlen Trostlosigkeit aus und doch bleibt da ein Hoffnungsschimmer: Die Welt steht Kopf, aber sie ist nicht verloren. Sie kann sich weiterdrehen, die Regenerations- und Schöpfungskraft der Natur ist ermutigend.

Ermutigung, Drehmomente und Perspektivwechsel sind auch in der heutigen Ausstellung mit dem Titel „Hoheitsgewässer“ gegenwärtig.

Catharina de Rijke wird vom Wasser angezogen. Die Galerie am Klostersee ist eine ideale Umgebung für die Bilder der Künstlerin. Ihre Malerei führt immer wieder zu Landschaftsassoziationen, meistens mit viel Wasser, Inseln und besonderen Lichtreflexen. Sie erinnert das an ihre Heimat, die Niederlande. In Rotterdam wurde Catharina in eine künstlerisch geprägte Familie geboren. Da ihre Eltern darauf bestanden, dass sie einen lebenspraktischen Beruf erlernte, studierte sie Textildesign in Delft und verfolgte dabei ihr Ziel, Künstlerin zu werden, konsequent weiter. Das Design-Studium beinhaltete grundlegende Kenntnisse der Wahrnehmungstheorie, des Objektzeichnen, Kompositionsprinzipien, Textiltechnologie, Produktionsverfahren und vieles mehr. Es eröffnete ihr Freiräume der Gestaltung und des Experimentierens, die sie ausgiebig nutzte. Sie besaß immer ein Atelier und trieb ihre Forschungen gemeinsam mit zwei Architekten in der eigens gegründeten Künstlergruppe „Frisse Kunst“ – „Frische Kunst“ voran. Während eines Aufenthalts in Paris besuchte sie zudem ein halbes Jahr lang Vorlesungen zur Kunstgeschichte.


»Catharina de Rijke wird vom Wasser angezogen.«



Et voilà! Konzentration, Ernsthaftigkeit, Durchsetzungskraft und Disziplin zeichnen Catharina de Rijke aus, genauso wie Heiterkeit, Leichtigkeit, Intuition und Poesie. Bis heute ist ein vielfältiges und außergewöhnliches Werk entstanden, das in Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland gezeigt wurde. Ein feines Netz von inhaltlichen und formalen Beziehungen verbindet alle ihre Arbeiten. Der rote Faden darin ist nicht nur die von Wasser durchzogene Landschaft, sondern auch ihre Vorliebe für Stofflichkeit. Sie bearbeitet Textilien als Objekte (Little Beauties und Broken Beauties) und verwendet auch Stoffe, um damit Farbe auf ihre Bilder aufzutragen. Dazu kommt ihr Gespür für Farben: Pigmente, Champagnerkreide, Acryl, Öl und Bindemittel unterschiedlicher Art. Und diese Stofflichkeit ist es, die die Betrachtenden auf einer nicht sprachlichen Ebene berühren kann.

Wichtig ist es der Künstlerin, die Leinwände bzw. die Malgründe, sei es Jute oder einen anderen Bildträger, selbst auf die Keilrahmen aufzuspannen. Danach erfolgt das sorgfältige Anmischen der Farben, das sie selbstverständlich selbst übernimmt. Sie beschreibt die handwerklichen Vorbereitungen als ein Ritual, mit dem sie den Akt des Malens beginnt. Catharina konzentriert sich in ihren Kompositionen auf Wesentliches, stellt Fülle und Leere,  Glattes und Rauhes, Hell und Dunkel in spannungsvolle Bezüge und bringt die Farben mit besonderer Achtsamkeit Schicht um Schicht auf die Leinwand.

Es wundert nicht, dass Catharina de Rijke sich von japanischer Kunst, Philosophie und Kultur angezogen fühlt. Das zeigt sich äußerlich in verschiedenen Bildserien, in Mishima (2005), Fukushima (2012) und Lost Paradise (2013) oder in Ihrer Hommage an den Bildhauer und Designer Isamo Noguchi (1904-1988) This Earth – This Passage (2023), und auch in ihrer eben beschriebenen aufmerksamen Art zu Malen.

Catharina nimmt in ihren Bildern Bezug auf politische Ereignisse, kulturelle Phänomene, Literatur und Tanz, persönliche Erlebnisse mit Menschen und mit ihrem besonderen Blick auf Natur, auf Mutter Erde. Jedem dieser Impulse widmet sich die Künstlerin für einen längeren raum. In den allermeisten Fällen arbeitet sie an einer Serie von Bildern mit ähnlichen Elementen, die sie auf verschiedenen Formaten variiert. Am Ende steht die Titelgebung für die Serie, manchmal zusätzlich für einzelne Bilder innerhalb einer Serie und für die Ausstellung, die den Prozess abrundet. Die meist poetischen Titel regen an, die Malerei nicht dem Zweck der äußerlichen Wiedererkennung von Gegenständen zu unterwerfen. Die Künstlerin möchte beim Betrachten zu einer Reflektion über innere Prozesse anregen.

An dieser Stelle passt gut ein Zitat des russischen Künstlers Alexej Jawlensky (1864–1941), der als Maler des Expressionismus und zur Künstlergemeinschaft Der Blaue Reiter zählte:

»Jeder findet in jedem Kunstwerk immer nur das, wozu er sich selbst in seiner eigenen Seele vorbereitet hat. Darin liegt gerade die Kraft und die Unerschöpflichkeit eines Kunstwerkes. Es ist auch nicht nötig, dass das Empfinden des Betrachters und der schöpferische Trieb des Künstlers sich decken, denn der Künstler schafft mehr oder weniger unbewusst aus seiner Intuition heraus und scheint damit mehr zu sagen, als er eigentlich zu sagen beabsichtigte. Darin liegt gerade das Mysterium des Schaffens.« 

Bevor ich auf einzelne Werkgruppen in dieser Ausstellung eingehe, möchte ich noch auf einen weiteren Aspekt von Catharinas Arbeit hinweisen: Die Kunstvermittlung. Seit 23 Jahren gibt Catharina de Rijke ihr profundes Wissen über künstlerische Techniken und über Bildgestaltung weiter. Zum einen in ihrem privaten Atelier, zum anderen seit 2009 regelmäßig in der Kunstakademie Heimbach in der Eifel. „Das Konzept und meine Angebote richten sich an Jede und an Jeden – es gibt keine Anfangshürden zu überspringen.“, schreibt sie auf ihrer Homepage. „Kreative Techniken wie das Zeichen und Malen gewinnen eine neue Bedeutung als bereichernde Tätigkeiten, die die Teilnahme am kulturellen Leben fördern und nicht selten der Rückbesinnung auf das vergangene Leben dienen.“ii

Im Zentrum der Ausstellung Hoheitsgewässer steht ihre Turn-Over-Serie: es sind ihre neuesten Bilder, die in diesem Jahr von Januar bis März entstanden. Catharina beschreibt, dass sie ihre Arbeit daran wie einen Befreiungsschlag empfunden hat: In der Zeit davor, gerieten ihr die Bilder immer heller und waren auf zwei bis drei Farben reduziert; der persönliche Ausdruck trat immer weiter zurück.

Im Frühjahr hat sie dann ihr Atelier leergeräumt, um den Neuanfang zu unterstreichen und mit kräftigen, Blau-, Grün-, Gelb-, Orange-, Grau- und Brauntönen begonnen. Die erste Assoziation beim Blick auf die Bilder ist die eines Landschaftsraums mit Himmel, Meer und Küste. Man kann an barocke Deckenfresken oder an bewegte Seestücke des englischen Malers William Turner (1775–1851) denken. Dennoch sind es nicht konkrete Orte, nicht die beliebte französische Steilküste von Étretat, nicht der Rotterdamer Hafen. Es sind atmosphärische Chiffren, die von einer besonderen Umrissform abgeschlossen werden. Die Umrisslinien variieren in ihrer Form und ihrer Breite. Sie besteht aus einem flächenhaft aufgetragenen Farbton, gemischt aus Weiß, Van Dyck-Braun und einem mittleren Cadmiumgelb, wie mir Catharina verriet. Man kann diesen Bildteil nach außen, zum Bildrand hin, als Hoheitsgewässer betrachten. Nach innen ergibt sich in etwa die Form einer menschlichen Figur. Man kann zwei beschuhte Füße erkennen, einem in den Nacken gelegte Kopf im Profil und einem (schützend) über den Kopf gehaltenen Arm. Den Umriss hat Catharina de Rijke von Bild zu Bild variiert. An einer Seite bleibt die Form jeweils offen. Dort wird die Grenze nicht durch eine gezogene Linie, sondern durch den Keilrahmen gebildet. Die Umrisslinie verliert an dieser Stelle ihre Eindeutigkeit.

Beim Betrachten der Figur kann sich die Assoziation einer dramatischen Szene einstellen, der die Künstlerin in einigen Fällen durch einen Blickwechsel entgegengearbeitet hat. Bei manchen Variationen entschied sie sich zu einer Drehung des Bildes. Was zuvor unten war ist nun auf die Seite gestellt. Durch die neue Ausrichtung scheinen die Figuren der Schwerkraft enthoben. Die Füße zeigen noch die Richtung an, aus der die Künstlerin die Bilder ursprünglich gemalt hat (die Füße waren immer unten), aber anstelle eines Körperbildes, drängt sich beim Betrachten die Gestalt einer Landschaft auf. Die Dramatik ist herausgenommen; ein Gefühl von Leichtigkeit und Schweben greift augenblicklich Raum. Körper und Landschaft sind dennoch untrennbar miteinander verknüpft. Durch das Drehen erleben die Bilder eine Transformation, die absichtslos zustande kam und erwünscht ist. Das Turn Over ist eine kreative Provokation, ein Perspektivwechsel, mit der Catharina de Rijke spielt.

Außer dem Dreheffekt bringt die Künstlerin weitere Variationsmöglichkeiten ein: Das sind die unterschiedlichen Formate (das größte Bild der Turn Over-Serie misst 130 x 170 cm, die beiden Kleinsten 50 x 45 cm), die auch in anderen Serien variieren. Da sind die Formen der Schuhe, mal kräftiger, mal zart und die Farbe Kadmiumorange, die sie in unterschiedlichen Ausprägungen auf die Leinwand gebracht hat. Catharina de Rijke sagt: „Ein bisschen verderben muss man immer.“ und „Das Bild muss sich mit sich selbst konfrontieren. Es muss sich selbst infrage stellen.“ 

Turn Over empfand sie im Unterschied zu den vorherigen Serien wie die Arbeit an einem Film, weil eine Szene der nächsten folgt und alles zu einem großen Fresko verschmilzt. Jedes Bild besteht aus einer äußeren und einer inneren Form, aus Felsen, Meer, Küste, Himmel und Leuchten am Horizont. Die Landschaft geht weiter und man sieht schon den nächsten Tag.


»Ein bisschen verderben muss man immer ... Das Bild muss sich mit sich selbst konfrontieren. Es muss sich selbst infrage stellen.«



Ebenfalls mit dem Meer verbunden ist die, an der gegenüberliegenden Wand befindliche, Installation NAP – die Abkürzung für Normal Amsterdams Peil – Normaler Amsterdamer Pegel. Es ist die Bezeichnung für den Nullpunkt einer Höhenfestlegung in Amsterdam. Sie wurde 1674 erstmals erwähnt, seit 1683 festgelegt und wurde seit 1879 europaweit eingeführt. NAP ist der Inbegriff der Niederlande besonders für Zeeland mit seinen vielen Inseln.

Entstanden ist diese Bildeinheit als Nebeneffekt aus dem Entwurf für ihre Stoffskulpturen der Serie Remained aus 2016 mit den Untertiteln Broken Beauties und Little Beauties, von denen einige Exemplare hier ausgestellt sind. Die Großmutter der Künstlerin hatte noch die alte niederländische Tracht getragen. Von der weiblichen Kleidung inspiriert, entwickelte Catharina Muster aus Papier, die sie aus einer Tageszeitung ausschnitt. Auf der Vorderseite war Schrift zu sehen. Auf der Rückseite erschien zufällig ein Bild, ein Innenraum, in dem jemand auf einem Sessel sitzt. Das Foto stand in Bezug auf die Richtung des Kleides auf dem Kopf – auch ein Turn-Over! und war geprägt von Blau und Violett-Tönen. Aus den Prototypen entwickelte Catharina zum einen große Stoffskulpturen und zum anderen die 13 NAP-Bilder in unterschiedlichen Formaten. Alle 13 Elemente hängen zusammen, sind andererseits eigenständig zu sehen.



NAP IV, 2019, Pigmente und Acryl auf Leinwand, 60 x 80 cm



Desgleichen durch die Farbe Blau geprägt ist eine Reihe von Porträts, die auch in diesem Raum hängen. Es sind Bilder, die Catharina von ihren Töchtern Eleonor und Judith gemalt hat, ergänzt durch ein Selbstporträt und einen 4. Kopf ohne Namen. Die schemenhaften Kopfformen mit langen Hälsen zeichnen sich durch eine sehr kräftige, verdichtete Oberfläche aus. Die Farbe hat Catharina hauptsächlich mit dem Spachtel aufgetragen. Schicht um Schicht verlieh sie den Bildern damit ein zusätzliches materielles Gewicht. Der Akt des Malens war so etwas wie eine archäologische Suche der Künstlerin nach der eigenen, persönlichen Kontur und nach ihrer Verbundenheit mit den eigenen Kindern.

Die Bilder mit dem Titel Köpfe Afrika aus dem Jahr 2010 sieht Catharina de Rijke als vertikale Landschaften. Sie wollte Frauengesichter im Profil darstellen, die eine Kopfbedeckung und einer Last tragen. Die Acrylfarbe hat Catharina de Rijke ausschließlich mit einem feinen, faltenfreien Tuch auf die Leinwand getupft. Dieser Prozess ist besonders anspruchsvoll, da die Farben sehr schnell trocknen und kaum Korrekturen möglich sind. Es ist eine sehr dichte, pigmenthaltige Malerei. Ohne handwerkliche Spuren eines Pinsels oder Spachtels, könnte man den Eindruck gewinnen, die Farbe hätte sich von Innen auf der Leinwand ausgebreitet, es wären Erscheinungen in heißem Sonnenlicht.

Als Köpfe hat sie ursprünglich ihre Körperinseln angelegt. Sie entstanden 2019 jeweils im gleichen Format von 40 x 40 cm und beziehen sich auf eine frühere Insel-Serie in einem etwas größeren Format von je 80 x 120 cm aus 2016. Eine direkte Assoziation mit Gesichtern wollte Catharina vermeiden, weshalb die Künstlerin die Leinwände so aufgehängt hat, dass die Interpretation offenbleiben kann. Die ovalen Formen auf quadratischem Grund erinnern jetzt eher an Amöben oder Zellen unter dem Mikroskop mit einem feinen Innenleben. Charakteristisch ist die trockene Malweise, mit der Pigmente und Kreide auf die Leinwand aufgetragen wurden.

Der differenzierte Umgang der Künstlerin mit der Farbe, ihre ausgezeichneten Kenntnisse der Zusammensetzung von Pigmenten und Bindemitteln hat sie vor allem in der Serie This Earth – This Passage (2020) zur Meisterschaft gebracht. Sie hat den Malprozess wie einen Dialog geführt, in dem Zufall und Steuerung sich zu einer großzügigen und eleganten Komposition vereinen. Der Farbauftrag wirkt pudrig und ohne handwerkliche Spuren, als wäre er wie schon bei den Afrikanischen Köpfen von selbst auf das Bild gefallen. An den Stellen, an denen bei This Earth – This Passage Spuren flüssiger Farbe zu sehen sind, scheinen nur wenige Eingriffe nötig gewesen zu sein.

Der Farbauftrag bedarf einer exakten Vorbereitung: alle Farben, alle Werkzeuge (Pinsel, Tücher, Spachtel) müssen bereitstehen, um im richtigen Moment eingreifen zu können. Alle Spuren und deren Auflösung werden sichtbar. Es findet eine Gegenüberstellung zwischen offenen und geschlossenen Formen statt, zwischen zarten und sehr dichten, glänzenden und matten Stellen im Bild. Man könnte dies als eine pädagogische Haltung im Malprozess beschreiben: Die Farbe wird als eigenständiges Wesen betrachtet, das Respekt und Hingabe verdient. Es ist so, als ob Catharina de Rijke die italienische Pädagogin Maria Montessori oder die ungarische Ärztin Emmi Pikler im Ohr gehabt hätte: Nach der Devise „Hilf mir, es selbst zu tun“ muss die Künstlerin darauf warten, dass ihre Kinder Farbe und Form ihre innewohnenden Anlagen selbst entfalten können. Dazu ist große Geduld nötig. Die sich entwickelnden Farbschichten müssen erst trocknen, bevor die nächste Schicht aufgetragen werden kann. Catharina war in dieser Serie wieder das Weglassen besonders wichtig.

Es entfaltet sich ein leises Zwiegespräch zwischen den sparsamen Formelementen, es entstehen offene Räume, die man auch als Betrachterin und Betrachter durchschreiten kann. Thematisch dreht sich This Earth – This Passage um die Entwicklung eines Vogels aus einem Ei. Es geht um die Spanne zwischen Geburt und Tod. Hinweise darauf kann man aus den ovalen und flügelartigen Formen in den Bildern erahnen. Die Serie versteht die Künstlerin als eine Hommage an Isamo Noguchi (1904-1988). Dessen Werke hatte Catharina de Rijke 2016 im Noguchi-Museum während eines New York-Aufenthaltes anlässlich ihrer Ausstellung in der japanischen Galerie Tenri bewundert.

Ein weiterer Künstler, den Catharina de Rijke inspiriert, ist Johannes Vermeer. Abgesehen davon, dass der berühmte holländische Maler 1632 in Delft geboren und 1675 dort begraben wurde und mit der Geschichte ihrer Heimat verknüpft ist, schätzt sie an ihm, dass er seiner Zeit voraus war und seine Bilder frei gestalten konnte. Er beschäftigte sich intensiv mit der Gegenüberstellung von Licht und Schatten, wie Rembrandt ein Meister des Hell-Dunkels. Vermeer schaffte Räume, ohne diese zu überladen. Und er stellte schlichte Szenen dar, die den Augenblick betonen: eine Frau liest in einem Buch, eine Frau gießt Milch aus einem Krug in eine Schale, usw. Mit wenigen Figuren konnte er eine ganze Geschichte erzählen. Catharina reagierte mit sieben Bildern auf Vermeers Innenräume: Sie konzentrierte sich dabei auf wenige Elemente einer lesenden Frau am Fenster, die bei ihr nur schemenhaft angedeutet werden. Vier davon aus dem Jahr 2006 sind in Hoheitsgewässer zu sehen.

Auf ihre Heimat bezogen ist des Weiteren die Serie Delfts Blauw aus 2019. Anlässlich ihrer Ausstellung im Schloss Eulenburg bei Rösrath in der Nähe von Köln, wurden ihr vorher die Räumlichkeiten gezeigt. Bei der Führung durch das herrschaftliche Gebäude war sie überrascht, im Bürgermeisterzimmer einen Raum vorzufinden, der voller blauer Delfter Kacheln und braunen Fliesen war. Davon inspiriert malte sie acht großformatigen Bilder auf dem Fußboden. Hier integrierte sie die gleichmäßigen Kachelformen in ihre Gestaltung und experimentierte erneut mit einem stofflichen Farbauftrag: Diesmal hatte sie ein Stoffbündel so zusammengefasst, dass tiefe Falten entstanden. Sie haben unregelmäßige, leuchtend blaue Muster auf den Malgrund geprägt, die wie Farbdrucke auf Leinwand wirken. Die Künstlerin hat die Bildoberfläche außerdem mit weiteren Werkzeugen bearbeitet, mit Schwamm, Rolle, Pinsel und Spachtel. Von Bild zu Bild experimentiert sie mit offenen und geschlossenen Formen in Blau, Weiß und Braun. Die Größe der Formate transportiert die Erhabenheit der niederländischen kulturellen Traditionen in die heutige Zeit.

Ein weiteres Beispiel der Experimentierfreude von Catharina de Rijke zeigt sich in der Serie von Tusche-Bildern auf Balsa-Holz. Wie Turn-Over sind sie in diesem Jahr entstanden. Bei den sechs, jetzt gerahmten Werken, legte die Künstlerin ihr Hauptaugenmerk auf die Struktur des Bildträgers, auf das rohe helle und saugfähige Holz mit seiner speziellen Maserung. Darauf setzte sie schwungvolle Pinselzüge mit Tusche mit nur zwei eigenen Farbtönen:

Schwarz in unterschiedlichen Verdünnungen und Gelb. Der leuchtende Eindruck erscheint, wie beim Mond, nicht von innen, sondern von außen her zu kommen. Die Serie ist eine Weiterentwicklung der Bilder Schein-Mond – Mond-Schein und greift das Drehmoment auf. Catharina de Rijke hat den quadratischen Bildern den Titel Draugma gegeben. Es ist der indogermanische Ursprung des Wortes Traum und hängt bedeutungsmäßig mit Trugbild zusammen. Der Titel Draugma weist auf den veränderten Bewusstseinszustand während des Schlafs hin und korrespondiert mit dem flüchtig erscheinenden Farbauftrag.

Ich komme zurück auf den Ausstellungstitel: Als Hoheitsgewässer wird nach Seerechtsübereinkommen ein Meeresstreifen bezeichnet, der an die Landfläche eines Küstenstaates angrenzt. Die Breite dieser Küstenmeere beträgt maximal 12 Seemeilen. Dazu zählt nicht nur das Wasser, sondern auch der Luftraum, der Meeresboden und der Untergrund. Der jeweilige Staat übt darin volle Souveränität aus, insbesondere in den Bereichen Gefahrenabwehr, des Umweltrechts und der Strafverfolgung. Mit Ausnahme von Kriegsschiffen können die Rechte gegenüber Schiffen aller Flaggen durchgesetzt werden. Einschränkungen in den Hoheitsrechten bestehen in Bezug auf das Recht auf friedliche Durchfahrt und des Völkerrechts, die eingehalten werden müssen. Es geht um Souveränität. Obwohl wir Menschen an Land leben, sind wir von Natur aus „Wasserwesen“: Unser Körper besteht zu großen Teilen aus Wasser: als Neugeborene noch zu 70–80%, im Alter von 85 Jahren und mehr noch zu 45–50%. 

Im Zusammenhang mit dieser Präsentation in der Galerie am Klostersee weist der Titel auf den landschaftlichen und kulturellen Ort Kloster Lehnin, auf einen feinsinnigen Zusammenhang aller hier ausgestellten Werke. Er könnte auch als Aufforderung der Künstlerin verstanden werden, die eigene Hoheit über Körper, Geist und Seele auszuüben. Darin eingeschlossen auch die Hoheit über die eigenen Empfindungen und die eigene Sichtweise auf Kunstwerke. Schließlich ist für mich der Titel Hoheitsgewässer – wenn ich das sagen darf, weil ich von ihrem Schaffen so begeistert bin - ein passender Begriff für die Souveränität ihrer künstlerischen Arbeit.

Genießen Sie den Blick auf die Bilder von Catharina de Rijke in diesen schönen Räumen, und tauschen Sie sich gerne darüber aus.

Vielen Dank für Ihr Zuhören!




Mark